Nachruf Karlheinz Müller
Im den Jahren 1986/ 1987 wurde in Würzburg bei Abrissarbeiten im Zusammenhang mit der Quartierssanierung der „Pleich“ der größte Fund mittelalterlicher Grabsteine gemacht. Es war Prof. Dr. Dr. Karlheinz Müller, der Lehrstuhlinhaber für biblische Einleitungs- und Hilfswissenschaften der Universität Würzburg, der diesen Fund als solchen in den folgenden 20 Jahren erforschte. Was heißt „erforschte“? – Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an den Aufruf im Hörsaal zu freiwilliger Mitarbeit, damit die Steine zunächst in Privatinitiative abtransportiert und gelagert wurden.
Was darauf folgte ist eine einzigartige Leistung von Zivilcourage, Forscherleben und Leidenschaft in einem. Karlheinz „Charly“ Müller war die treibende Kraft zur Rettung dieses Schatzes. Nicht zuletzt für diesen wurde um die Würzburger Synagoge das Kulturzentrum „Shalom Europa“ gebaut.
Als langjähriger katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken redete er nicht „über“, sondern „mit“ Juden. Das bedeutete, dass er sehr früh zum unbequemen Mahner Würzburgs wurde. Immer wieder legte er die Finger in die offene Wunde, die Tatsache nämlich, dass die unterfränkischen Juden 1942 am helllichten Tag vor aller Augen deportiert wurden. Für seine Schülergeneration war es der Anstoß, je vor Ort unterfrankenweit eine entsprechende Gedenkkultur zu realisieren.
Es ging Karlheinz Müller nicht darum, wie er es nannte, „mit augenlosen Juden“ zu kommunizieren. Er wollte vielmehr erkennen, wie „Jude-Sein“ im konkreten Leben funktioniert, besonders beim gläubigen Judentum nach der Halacha unter modernen Bedingungen. Auch in Aschaffenburg war er mit diesen Anliegen regelmäßig Vortragsgast und guter Ratgeber. Darin war er ganz der Bibelwissenschaftler und Judaist: sein einzigartiges und unhintergehbares Verdienst ist sein Nachweis, dass Jesus von Nazareth nur als Jude seiner Zeit verstanden werden kann. Und dies heißt, dass die Zeugnisse des NT ihren Sinn nur über das – jüdische – Offenbarungsverständnis „ab dem Sinai“ bekommen. Die „jüdische Gesetzlichkeit“ taugt nicht länger als Gegenfolie zur „befreienden Botschaft Jesu“. Dies einzusehen, vermisste er nur zu oft im Christentum. In den Grabsteinen, die auf ihre Weise sein Anliegen weitergeben, fand er diese Einsicht wieder. Sie bleibt sein Vermächtnis für alle, denn er ist am 18. Februar 2020 im Alter von 83 Jahren verstorben.
Josef Pechtl