Wir brauchen die Juden
Ansprache anl. Gedenkens der Novemberpogrome von 1938 am 9.11.23 in Aschaffenburg, Gedenkstätte Wolfsthalplatz
Sehr geehrte Damen und Herren, werte Vertreter und Amtsinhaberinnen aus religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Gremien,
bereits vor hundert Jahren gab es schon einmal eine kleine „Kristallnacht“, und zwar in München. Als Teil des Putschversuchs durch Hitler und seine Spießgesellen wurden insbes. in der Nacht vom 8. auf den 9. November einige hochangesehene jüdische Bürger geschlagen, bedroht, drangsaliert. Einige von ihnen zogen seinerzeit schon die Konsequenzen und verließen in der Folge Deutschland.
Niemand hätte 1923 gedacht, dass fünfzehn Jahre später dasselbe im allgemeinen Stil und von Staats wegen gedeckt stattfinden würde.
Hier in Aschaffenburg fand 1938 Folgendes:
Ein SA- Spielmannszug, der Scheiben von Geschäfte und Cafes einschmiss und sonst lautstark randalierte. Die Synagoge wird in der Stunde nach Mitternacht angezündet und brennt im Lauf des folgenden Tages völlig aus. Zur schrecklichen Bilanz kommt, dass SS-Männer gegen 5 Uhr früh des 10.11. auf Herrn Löwenthal in seiner Wohnung in der Platanenallee Schüsse abgaben und Herrn Vogel aus seiner Wohnung Weißenburger Str. 40 in die Fasanerie schleppten und versuchten, ihn dort zu erschießen. – Schwer verletzt konnte er das Attentat nur um wenige Tage überleben, er starb am 16. 11. –
Und heute? 2023?
Wie geht es uns? Das sollten wir uns fragen, wenn wir uns des Massakers und des Krieges gegen Israel bewusstwerden, wenn wir mitbekommen, wie sich mitten unter uns Antisemitismus, Hohn, Hetze, perverser Zynismus offen zur Schau stellen.
Wie geht es uns? Ich gestehe: mir ist sehr mulmig zumute, und manchmal bin ich sehr zornig.
Wo habe ich, wo haben wir, jene, die mit mir eine offene, den Menschenrechten verpflichtete Gesellschaft wollen, versagt? Was ist schief gegangen?
Einen Trost habe ich: Antisemitismus geht, im Unterschied zu ´38, heute nicht vom Staat aus, sondern von den Feinden dieses Staates. Aber: das war auch ´23 so, und ich frage mich: wie sieht es in fünfzehn Jahren aus, wenn wir zum Hundertsten der Pogromnacht werden gedenken wollen?
Wir müssen uns unbequemen Fragen stellen, jetzt, heute, und wir müssen uns ändern, wenn diese offene, soziale, die Menschenrechte bewahrende Gesellschaft, wenn dieser demokratische Rechtsstaat bleiben soll.
Wieviel Verrohung lassen wir bei uns zu? Wonach richten wir unseren moralischen Kompass tatsächlich aus? Wieviel an seelischer, an geistiger Verrottung lassen wir zu? Bei uns? Bei denen, die uns anempfohlen sind? An den Schalthebeln der Macht, dort, wo wir nicht nur für uns, sondern auch für andere mitentscheiden: am Arbeitsplatz, in Verbänden, in Gremien aller Art? Was tun wir angesichts eben dieser allgegenwärtigen Verrohung? Wie fangen wir damit bei uns selbst an?
Haben unsere Formen des Erinnerns und Gedenkens versagt? Wem oder was nutzen sie überhaupt?
So gut und richtig unsere moralischen Appelle auch sind: ohne, dass sie sich durch kluges Handeln im Alltag bestätigen, nutzen sie nichts. Und bei diesem Themenfeld ist zu fragen:
Schaffen wir das im Alltag – jede Person an ihrer Stelle? Treten wir ein, wenn sich Antisemitismus in unserem ganz persönlichen Umfeld zeigt? Machen wir den Mund auf, wenn sich Antisemitismus als angeblich antikolonialer Antiisraelismus tarnt – aus muslimischer oder aus vermeintlich linker, sich besonders schlau gebender Kritik? Trauen wir uns, Einhalt zu gebieten, wenn nötig auch mit Anzeigen? Das Recht dazu ist da, wir alle müssen es nur folgerichtig anwenden, damit die Antisemiten den Kipppunkt, an dem wir stehen, nicht zu ihren Gunsten nutzen können.
Meine Damen und Herren, beim Antisemitismus geht es um uns, erst in zweiter Linie um die Juden.
Es geht um uns alle, egal ob Juden oder Nichtjuden, Palästinenser oder Nichtpalästinenser, Atheist oder Gottgläubiger.
Antisemitismus ist die Absage an Differenziertheit, Vielfalt, Toleranz, Offenheit usw.
Aber dies wollen wir. Deswegen wollen wir Juden mitten unter uns, deswegen brauchen wir Juden mitten unter uns.
Der Herr Oberbürgermeister und ich haben dies in einem Brief an unsere Jüdische Gemeinde in Würzburg und ihren Vorsitzenden Herrn Dr. Schuster zum Ausdruck gebracht. Wir werden Ihnen nachher seine freundliche Antwort nicht vorenthalten.
Wir alle können auch hier noch eine Menge tun: erweitern wir unser Wissen rund um unsere Geschichte, erweitern wir unser Wissen zum Judentum, besuchen wir die Gemeinden, in Würzburg das Haus „Shalom Europa“, in Frankfurt die Große Synagoge oder das Jüdische Museum. Besuchen wir unsere Gedenkstätten allüberall in Deutschland und darüber hinaus, die allesamt mit sehr informativen und weiterführenden Teilen bestückt sind.
Helfen wir hier in unserer Stadt mit, dass unser Museum und unsere Gedenkorte „lebendige“ Begegnungsräume sind. Gehen wir hin, nehmen wir etwa an Führungen teil, lesen wir nach, und lernen wir, was wir über unsere Jüdische Geschichte wissen können, fangen wir an, sie als Teil von uns zu begreifen und davon zu erzählen.
Im nächsten Jahre feiert unser Museum sein 40. Jahresjubiläum. Es ist unseres Wissens das älteste seiner Art in Bayern, wenn nicht in ganz Deutschland. Wenn das kein Grund ist, zu feiern und ein wenig stolz zu sein! Helfen Sie mit, dass bis dorthin die Sanierung der Sicherheitseinrichtungen abgeschlossen und es dann wieder eröffnet ist. Helfen Sie in der Folge mit, dass die Stadt die Erneuerung der Ausstellung angehen kann: das Museum als ein Lern- und Begegnungsort. Zeigen wir unser lebhaftes Interesse an diesem Ort der Begegnung mit dem Judentum – hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zu dieser Gedenkstätte der Synagoge, d.h. des „Hauses der Versammlung“ – einer Stätte des Friedens.
„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Ich will diesen Satz Wolf Biermanns auf uns anwenden:
Ändern wir uns, damit es auch in fünfzehn Jahren, 2038 bei unserem menschwürdigen Miteinander bleiben kann. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.